Es ist sechs Uhr am Morgen. Ich sitze am offenen Fenster unseres Seminarraums im Dachstudio und genieße die kühle Morgenluft. Das Zwitschern der Vögel breitet sich wie ein Teppich über die Stille.
Im diffusen Morgenlicht fällt mein Blick auf den Baum vor dem Fenster. Seit heute morgen ist es mein Baum. Er hat mir erzählt von seinem Wachsen gegen alle Widerstände, von seinen Verletzungen, von seinem Blütenkleid, das er erst vor einigen Tagen wieder abgelegt hat. Er hat mir erzählt von der unbändigen Kraft, die sich aus seinem Seitenast wie eine Explosion entfaltet hat und die abgestorbenen Äste immer mehr zudeckt.
Wenn Bilder sprechen
Ich denke zurück an frühere Zeiten, als ich viel in der Jugendarbeit engagiert war. Die Arbeit mit Bildern war damals selbstverständlich. „Bildersprache“ hießen die Sammlungen, die zur Grundausstattung bei den Seminaren gehörten. Und natürlich die eigenen Fotos, die sich dazu gesellten. Viel haben uns damals die Bilder erzählt über unser Leben und unsere Befindlichkeit. Sie hatten eine Deutungshoheit, wenn im Wirrwarr der Gefühle die Klarheit verloren ging.
Die Sprache der alten Bäume im Wind
Bei meinem Blick aus dem Fenster fällt mir ein Gedicht von Sighilde Mehren ein, das mir vor Jahrzehnten in die Hände fiel und mich bis heute begleitet:
Die Sprache der alten Bäume im Wind zu verstehen
wäre schon viel
und zu lauschen dem Lied der Stille
im vergehenden Licht
wenn aus der Ebene Vögel sich sammeln zum Flug
und von den Hügeln die Ferne herüberglänzt
Dann
wenn das Dunkel wächst
die Sprache der alten Bäume im Wind zu verstehen
wäre schon viel
Gerne hätte ich mehr erfahren über die Verfasserin dieses Textes, konnte aber leider nichts finden.
Meditative Fotografie
Wir haben uns angefreundet, mein Baum und ich. Ich werde nun öfter hier sitzen am offenen Fenster und seinen Botschaften lauschen. Er erzählt mir von neuem Wachsen und Blühen, während Altes abstirbt. Vielleicht war das nie so aktuell wie heute.
Jetzt darf ich ihn fotografieren. Weil er nicht mehr ein Motiv unter Tausenden ist. Weil er mein Baum geworden ist.
Das ist Meditative Fotografie.
Ergänzung am Abend: Hinter „meinem“ Baum erscheint einer der schönsten Regenbogen, die ich jemals gesehen habe. Da war nun mal wirklich keine Zeit mehr für Meditative Fotografie …
Lieber Georg,
beim Lesen deiner Zeilen über das Verhältnis zu deinem Baum lässt mich mit einer Gänsehaut an einen Baum denken, eigentlich eine Reihe von Bäumen, die mich regelrecht rufen, wenn die Sonne gerade dann aufgeht, wenn ich zur Arbeit fahre. Dann kann ich nicht anders, als dort vorbei zu fahren, das Auto abzustellen und diesen einzigartigen und immer wieder neuen Moment zu genießen und in mich aufzunehmen.
An solchen Tagen fahre ich mit einem Lächeln zur Schule und freue mich, dass ich dieses Geschenk des Tages erhalten habe.
Liebe Imke, es ist oft so, dass wir die stärksten Bilder in uns tragen – da brauchts nicht mal eine Kamera 😉
Lieber Georg,
eine wunderschöne“Bildgeschichte“.
Vielleicht folgen ja noch weitere Geschichten von Dir und Deinem Baum.
Ich würde mich darüber freuen:-)
Und ich wünsche mir, dass viele Menschen so eine „Baumgeschichte“ erleben können.
Bei mir sind es die beiden alten Obstbäume, auch wenn es sie nicht mehr gibt… Das Foto zaubert mir immer noch ein Lächeln aufs Gesicht.
Herzliche Grüße
Astrid
Liebe Astrid,
dein Foto hat auch mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Es ist schön, von Bildern berührt zu werden und mich im Inneren berühren zu lassen. Herzlichen Dank für deinen Beitrag!
Wunderbar. Mir geht es mit meiner Birke an der Terrasse so – vor Jahren habe ich ein kleines Pflänzchen von einem Blumentopf in den Garten gesetzt, heute ist es ein riesiger Baum, wunderschön.
An sich bräuchten wir es nur der Natur gleichtun: einfach wachsen, ohne viele Fragen und Zweifel. Vielen Dank, Patricia!